DIE LETZTE HOFFNUNG
Dramatische Szene (in einem Akt)
Theaterstücke
Frühe Stücke:
Der Blumengarten (vor 1971)
Wer hat den Längsten?
(1974/75)
Das Glockenspiel im schwarzen Palast (1974)
Die Einweihung des öffentlichen Waisenhauses (1976)
Eine Blutwurst für King Kong (1978)
Schlag mich, peitsch mich, süsser Löwe (1978)
Stück ohne Titel (1979)
Liebe Spielen (1979/80)
Die letzte Hoffnung (Libretto, 1976)
Späte Stücke:
Sterns Stunden (1981)
Aus böhmischen Dörfern
Die Reise zum Mond
Kambek
Zwischen dem Kuss und Wiesersehen
Traiskirchen (1988)
Ein Neger mit Gazelle
Drei Sterne über dem Baldachin
Die Engel von Hollywood (Dramatisierung 1989/90)
Im Schatten der Büsche (1991/92) - Manuskript-Fragment
 

 

Jahr 1976
Copyright Daniel Corti, Klaus Hochmann
Personen 1D /3H
Ort der Handlung geräumige Wohnstube nicht sehr wohlhabender Bewohner
Zeit der Handlung  

Musik: Klaus Hochmann

Personen:

Frau Innes Knohring - Mezzosopran
Karhann, ihr Sohn - Schauspieler
Dr. Krautwachs, Arzt - Bariton
Oberst - Tenor

Instrumentalisten:
drei Schlagzeuger, ein Kontrabassist

 

Über das Stück

Im faschistischen Regime versucht eine Witwe, ihren nicht im Denken, aber in Bewegung und Sprache behinderten Sohn vor dem Arzt einen guten Eindruck machen zu lassen. Er muss normal sein, d.h. jetzt schön angezogen und gekämmt das Gedicht von den Katzen aufsagen können, sonst schickt ihn der Arzt auf Geheiss des Obersts "ins Gas". Der Sohn stottert. Koordinierte Bewegungen hätten noch dazugehört, von denen seine Mutter nichts gewusst hat. Sie vermag den Arzt zu erweichen, gewinnt Aufschub. Doch der um seine Karriere und sein Leben fürchtende Arzt schwenkt wieder um, sobald er den Oberst bemerkt, der ungesehen eingetreten ist. Der erpresst von der Mutter, indem er den Revolver auf den Rücken des Sohnes richtet, der es nicht sieht, das falsche Geständnis, sie wolle seine Frau werden, aber ohne Sohn. Dadurch wird dessen Herz getroffen. Sie möchte den Sohn die Prüfung bestehen zu lassen, der es nur für sie nochmals versucht. Als ihm der Anfang trotz aller Anstrengung und Liebe misslingt und sie in ihn dringt weiterzumachen, er könne es, erhebt sich gegen sie (die sich von ihm soeben losgesagt, aber die ihm immer noch meint sagen zu müssen, was er zu tun hat) eine Wut in ihm, und er schlägt sie bis zur Bewusstlosigkeit. Der Oberst, der aus Eifersucht früher schon seinen Vater erschossen hat, tut nun dasselbe mit ihm und vergeht sich an der ohnmächtigen Frau, sobald der entsetzte Arzt weggeschickt und der Vorhang gefallen ist.

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Die letzte Hoffnung

Einziges Bühnenbild: eine geräumige Wohnstube nicht sehr wohlhabender Bewohner.

Bevor im Zuschauerraum das Licht ausgeht, tritt Frau Knohring auf. Sie ist etwa vierzig Jahre alt, sieht aber jünger aus, schwarz gekleidet. Sie bringt ein weißes Hemd und einen schwarzen Anzug auf die Bühne, legt die Sachen auf den Stuhl. Ab. Sie kommt noch einmal und bringt Schuhe, Socken und eine Krawatte. Der Zuschauerraum wird dunkel, die Bühne hell. Frau Knohring wartet. Ordnet die Kleider, geht zur Tür, die sich in der Mitte der hinteren Wand befindet, und öffnet sie. Im Zimmer, nahe der Tür, für alle Zuschauer gut sichtbar, steht ihr Sohn Karhann. Karhann ist etwa zwanzig Jahre alt, schlaff, abwesend und passiv. Er ist schwachsinnig. Er steht in der Unterwäsche da.

Knohring Komm, worauf wartest du? Wir sind in Eile.

Führt ihn zum Stuhl mit dem Anzug etc.

Karhann (versteift sich) Nein, nein!
Knohring Was ist? Was hast du? Komm!
Karhann U-u-u-und wenn er d-d-da ist?
Knohring Niemand ist da. Ich bin da.
Karhann Er! Er!
Knohring Der kommt erst. Steh grade.
Karhann W-w-w-wann? W-wann ko-ko-ko-kommt er?
Knohring Bald. Wir müssen uns beeilen! Heb die Arme.

Karhann hebt die Arme. Frau Knohring zieht ihm das weiße Hemd an.

Knohring Heute musst du schön sein.
Karhann Ja.
Knohring Guten Eindruck machen. Du musst einen guten Eindruck machen.
Karhann Ja.
Knohring Wer guten Eindruck macht, der ist nicht hoffnungslos.
Karhann Ja.
Knohring Hoffnungslos sein ist das Schlimmste.
Karhann Ja.

Karhann ist schon fast fertig angezogen. Er hat einen schönen Anzug an und macht einen guten Eindruck. Es läutet.

Knohring Das ist er. Schnell, mach schnell.

Bindet ihm schnell die Krawatte. Es läutet.

Karhann Die Katzen.... !
Knohring gibt Karhann einen Kamm. Da. Kämm dich!

Es läutet. Frau Knohring ab durch die rechte Türe zum Hausflur. Karhann schaut sich im Spiegel verwundert an, streichelt den schönen Anzug, versucht sich sogar zu kämmen. Seine Bewegungen sind linkisch, es gelingt ihm nicht, den Haaren eine bestimmte Frisur zu geben, weshalb er sich noch schneller und noch unkontrollierter bewegt. Frau Knohring und Herr Doktor Krautwachs treten von rechts auf. Krautwachs: mittelgroß, 45 Jahre alt, unscheinbare Gestalt.

Knohring Das ist er! (zu Karhann) Wie du aussiehst!

Nimmt den Kamm und kämmt ihn selber. Karhann steht steif. Krautwachs betrachtet ihn.

Krautwachs Wie alt ist er?
Knohring Zwanzig. Im August.
Krautwachs Und kann sich noch nicht kämmen? Mit zwanzig?
Knohring Erst im August.
Krautwachs Alt genug ist er dafür.
Karhann W-w-w-wo-wo-wo-für?

Krautwachs schaut lange ihn, dann seine Mutter an.

Krautwachs Fürs Kämmen.
Knohring Bis zwanzig kann er das.
Krautwachs Bis zwanzig ist's zu spät.
Knohring Zu spät ist es nie, Herr Doktor. Die Hoffnung ist immer da.
Krautwachs Die Hoffnung schon...
Karhann (zeigt auf sich und nickt eifrig mit dem Kopf) Ho-ho-ho-ho-ho-hoffnung!
Krautwachs Aber Ihr Sohn nicht.
Knohring Schauen Sie, Herr Doktor! Sieht er vielleicht hoffnungslos aus?
Krautwachs Aussehn und sein ist zweierlei.
Knohring Er ist normal, glauben Sie mir, er ist normal, (zu Karhann) Sag dem Herrn Doktor das Gedicht auf! (zu Krautwachs) Er kann lernen, Herr Doktor. Er ist normal, er kann lernen. Aufnahmefähig, er ist aufnahmefähig. Das über die Katzen kann er schon.
Krautwachs Über die Katzen?
Knohring Der Herr Oberst sagte mir, dass Sie ein Gedicht über Katzen verlangen. Und das kann er schon. (zu Karhann) Komm, sag's auf. Der Herr Doktor wartet.
Karhann Dddder Kkkkk.... kkkk.... ka-ter bbe-wacht ddda-da-da-das Schschschschscheu-Scheuer-chen...
Knohring (streichelt ihn) Nur Ruhe, sag's auf mit Ruhe.
Karhann (sehr aufgeregt) De-de-de-de-d-e-dddddd...... (fängt an zu weinen)
Krautwachs Es geht nicht.
Knohring Aber er kann's, er kann's!
Krautwachs Er kann's nicht. Und auch wenn er es könnte: Auswendig lernen kann jeder Trottel.
Karhann Iiiii-ii-ii-ich bin kkkkein T-t-t-tro-tttttel!
Krautwachs Trottel nicht, aber Idiot, das bist du, ein Idiot. Und Idioten haben keine Zukunft vor sich. Bei uns nicht.
Knohring Er muss ein Gedicht lernen, sagte der Herr Oberst. Und wenn er es dann kann, muss er nicht weg.
Krautwachs Aber er kann es ja nicht. Und der Herr Oberst meinte was anderes. Er meinte ein Gedicht mit Koordination. Ich verlange ein Gedicht mit Koordination. Ein Koordinationsgedicht. Wer koordinieren kann, der hat noch Hoffnung. Den behalten wir.
Knohring Vom Koordinieren hat der Herr Oberst nichts gesagt. (zu Karhann) Und du hör jetzt auf.
Karhann (will immer noch das Gedicht aufsagen. Verkrampft sich aber immer mehr) Aaa... aa-aa-aa..... aaa
Knohring Siehst du nicht? Es hat keinen Sinn. Du musst koordinieren.
Karhann Wwwwas ko-o-rdi-nie-ren?
Krautwachs Wenn du das Gedicht aufsagst, musst du dazu entsprechende Bewegungen machen.
Knohring Bewegungen dazu kann er nicht.
Krautwachs Schade. Ohne Bewegungen keine Hoffnung.
Knohring Aber er kann sie lernen. Du kannst sie doch lernen?!
Karhann Jjjjja!
Knohring Er wird sie lernen. Er muss nur wissen welche.
Krautwachs Was "welche"?
Knohring Welche Bewegungen.
Krautwachs Das ist nicht meine Sache. Ich bin nur zur Untersuchung da.
Knohring Aber Sie untersuchen nicht.
Krautwachs Im Fall Ihres Sohnes erübrigt sich eine Untersuchung.
Knohring Warum sind Sie dann da? Warum sind Sie überhaupt gekommen?
Krautwachs Deshalb. Gerade deshalb. Um es festzuhalten. (zieht ein Notizbüchlein hervor) Schriftlich, bitte.
Knohring Was? Was wollen Sie festhalten? Sie können doch nichts festhalten!
Karhann N-ni-nichts! Nichts!
Krautwachs Ja, nichts. Keine Fortschritte, keine Hoffnung. Nichts. Zwanzig und kann sich noch nicht kämmen. Und mit den Katzen ging's auch nicht, Frau Knohring. Es tut mir leid. Um Sie tut es mir leid.
Knohring Um mich muss es Ihnen nicht leid tun. Um ihn, um ihn sollte es...
Krautwachs Sollte, ich weiß. Aber wenn er hoffnungslos ist? Wenn da wenigstens ein bisschen Hoffnung wär', dann täte es mir auch um ihn leid. "Schade", würde ich mir sagen, "eigentlich müsste er nicht... "
Knohring Was, was müsste er nicht?
Krautwachs Frau Knohring, Sie wissen doch....
Knohring Was müsste er nicht?
Krautwachs Ins Gas, Frau Knohring, ins Gas.
Karhann W-w-wa-wa-was? Was! I-i-in was?
Knohring Nichts! Da! Da bleibst du! Bei mir!
Krautwachs Aber wenn er hoffnungslos ist... Dann geht er halt. Um ihn ist es nicht schade. Aber um Sie. Sie quälen sich ja. Sie hängen zu fest an ihm. Um sie ist es schade, Frau Knohring.
Karhann Um mich! U-u-um mmmich!
Knohring Um ihn. Weil er nicht hoffnungslos ist. Das weiß ich, Herr Doktor. Er macht Fortschritte! Er hat das Gedicht gelernt, er wird auch die Bewegungen dazu lernen.
Karhann Jjjja! Ja!
Krautwachs Dass Sie so an ihm hängen.
Knohring Er braucht mich.
Krautwachs Na und? Brauchen Sie ihn vielleicht? (Pause)
Krautwachs Brauchen Sie ihn? (Pause)
Karhann Ja! Ja! Sa-sag ja!
Krautwachs Sie brauchen ihn nicht! Er ist eine Last für Sie. Eine Last für uns alle. Deshalb wollen wir ihn los sein. Eine gesunde Nation haben, das wollen wir. Sie sind noch jung. Zu jung für eine Soldatenwitwe. Sie können noch heiraten und Kinder haben. Starke und gesunde Kinder.
Knohring Heiraten... Kinder haben...
Krautwachs Ja, heiraten und Kinder haben...
Karhann Nein! Nnnnein! Ba-ba-ba-bei mir bbbbleiben!
Knohring Sie hat der Oberst geschickt.
Krautwachs Die Wissenschaft untersteht nicht dem Militär.
Knohring Umso schlimmer, wenn sie ihm gehorcht.

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aus der Partitur von "Die letzte Hoffnung"
 
 
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