Stück ohne Titel (Titelblatt fehlt)
in 4 Akten
Theaterstücke
Frühe Stücke:
Der Blumengarten (vor 1971)
Wer hat den Längsten?
(1974/75)
Das Glockenspiel im schwarzen Palast (1974)
Die Einweihung des öffentlichen Waisenhauses (1976)
Eine Blutwurst für King Kong (1978)
Schlag mich, peitsch mich, süsser Löwe (1978)
Stück ohne Titel (1979)
Liebe Spielen (1979/80)
Die letzte Hoffnung (Libretto, 1976)
Späte Stücke:
Sterns Stunden (1981)
Aus böhmischen Dörfern
Die Reise zum Mond
Kambek
Zwischen dem Kuss und Wiesersehen
Traiskirchen (1988)
Ein Neger mit Gazelle
Drei Sterne über dem Baldachin
Die Engel von Hollywood (Dramatisierung 1989/90)
Im Schatten der Büsche (1991/92) - Manuskript-Fragment
 

 

Jahr 1979
Copyright Daniel Corti
Personen 2D / 5H
Ort der Handlung Zürich
Zeit der Handlung Gegenwart

DAS HERZ WAR ZU SCHWACH - Der 15 Monate alte Martez Hill, der mit dem Herz ausserhalb des Körpers geboren wurde, ist tot. US-Ärzte hatten das Herz des Kindes mit einem Hautlappen überzogen - aber es war zu schwach.
Berliner Zeitung 30.4.1979

Personen:

Professor Sonnenschein, Sozialforscher
Hannelore, seine Assistentin
Huback, Polizeiinspektor

Randerscheinungen:
Charly
Vera, seine Angestellte
Hassan
Das blinde Kind


Über das Stück

Das Motto bezieht sich vor allem auf den innerlich leer gewordenen siebzehnjährigen Hassan, dessen Herz in der Ferne bei seinen Brüdern ist, die in Bielefeld wohnen. Hassan möchte mit dem gestohlenen, wertvollen Heiligen-Bild bei der nächsten Gelegenheit hin, um nicht mehr hier im Schliessfach wohnen und Charly, der sich “Tor zur Unterwelt” nennt, als Stricher dienen müssen.

Charly, der Wirt des Bahnhofbuffets, erkennt in dessen leerer Willenlosigkeit die Möglichkeit, dem Druck des Sozialforschers und Bildersammlers Sonnenschein zur Zusammenarbeit nachzugeben und dabei mit polizeilichem Augenzudrücken auch noch ein Geschäft zu machen. In einem als Wohltätigkeits-Organisation getarnten, sehr teuren, anonymen Privatklub soll tageweise ein Sklave, Hassan, billig vermietet werden, dessen geringe Einkünfte dem zwar gar nicht so sehr blinden und schon vierzigjährigen, doch von der ganzen Stadtbevölkerung bemitleideten "blinden Kind" zugute kommen sollen. Für die Eröffnung ist das sich im ersten Stock befindliche Bahnhofkino gemietet (dem Theater-Zuschauer sind nur zwei aufsteigende Treppen sichtbar) wo sonst dauernd die Jugoslawische Tourismuswerbung und die Groteske “Fips” gezeigt werden. Das Filmische findet in diesem Stück auch in den häufigen black outs, cuts Ausdruck, die kleinere oder grössere Zeitsprünge markieren. Vera, die im Buffett servierende Jugoslawin, ist hier ebenso fremd wie Hassan, dem sie nicht helfen kann, und hält aber im Gegensatz zu ihm die Hoffnung in sich wach. In einer Beziehung zur lesbischen, in unechten Gefühlen schwelgenden Hannelore kann sie keine Erfüllung sehen. Hassan wird vom blinden Kind, dem er unvorsichtigerweise von seinen Ausreissplänen erzählt hat, aus Rache für die versiegende Einnahmequelle im Schliessfach eingeschlossen und kommt um: "Betriebsunfall in Charlys Club privé" heisst es anderentags . Vera lebt zwar weiter, sogar sozial aufgestiegen, aber weiterhin traurig als Frau des, da er sich nur an Zahlen hält, eigentlich menschenverachtenden Polizeiinspektors.

Roll-Laden rauf und runter, dunkle Glastüre als Spiegel, das blaue Licht der elektrischen Fliegenfalle und der blaue Schein auf dem entwendeten Heiligen-Bild, kaputter Kühlschrank, schwarzes Schmieröl, schwarze Kleidung sind optische Zeichen, denen auch inhaltliche Bedeutung gegeben ist.
(Daniel Corti)

Das 6. Stück (ohne Titel) Es spielt im Hauptbahnhof von Zürich und ist eine groteske Farce voller Zynismus über die angeblich wissenschaftliche Art, sich mit gesellschaftlichen Randgruppen zu beschäftigen.
(Felix Bloch Erben-Zeitung)

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Stück ohne Titel

Aus dem 4. Akt

[...]

Sonnenschein Auf einzelne Individualitäten kommt es in der Forschung nicht an. Uns interessieren Typen. Der einzelne bleibt namenlos, ich meine sein Name, durch welchen er sich von den anderen unterscheidet, tut nichts zur Sache, wo doch sein Verhalten mit dem Verhalten der anderen in seiner Gruppe übereinstimmt. Ich habe mich nie für das Besondere meiner Versuchspersonen interessiert, sondern immer nur für das Typische. Sonst kann man ja keine Verhaltensregeln für die Gruppe aufstellen, wenn es das Typische nicht gibt, wenn nur das Besondere existiert.Im Besonderen liegt die Anarchie, ich frage nie jemanden nach seinem Namen.Aus Prinzip nicht.
Charly Aber da liegt doch ein Totalschaden vor mit einem flüchtigen Täter!Da hört jede Forschung auf, wo doch das eigene Interesse anfängt.
Sonnenschein Durch ihre Entwicklung hat sich die Untersuchung selber einEnde gesetzt. Elegant.
Charly Die Nummer achtundvierzig! Die muss jetzt zahlen, bis sie schwarz wird. Zahlen, zahlen, zahlen!
Huback Wenn wir sie finden.
Sonnenschein Eine schöne Forschungsarbeit.
Charly Zahlen! Zahlen!

Vera dreht sich um und sagt mehr für sich als für die anderen
Vera Hier ist doch ein Mensch gestorben. Oder nicht?

Charly, Huback und Professor Sonnenschein starren sie an. Das blinde Kind tritt auf.

Das blinde Kind Ein Mensch! Ein Mensch!

Die Bühne wird dunkel. Der Rolladen vor dem Polizeiposten wird runtergezogen, die Schliessfächer bleiben offen. Das himmlische Licht über dem kaputten Kühlschrank im Büffet leuchtet auf. Auf dem Kühlschrank steht das blinde Kind und montiert das himmlische Licht ab. Charly macht im Büffet das Licht an, das blinde Kind packt das himmlische Licht, klettert damit schnell den Kühlschrank runter und rennt aus dem Büffet heraus. Charly rennt ihm nach.

Charly Das ist mir jetzt seit gestern schon das zweite Mal passiert, dass mir das himmlische Licht geklaut wird.
Das blinde Kind Das ist nicht geklaut, weil das Licht mir ist.
Charly Geschenkt ist geschenkt. Der Kühlschrank ist kaputt.
Das blinde Kind Das ist das himmlische Licht der Wohltätigkeit, und das leuchtet nur dort, wo man zu mir wohltätig ist.
Charly Haben Sie das vielleicht schon irgendwo gesehen, dass man aus der eigenen Tasche wohltätig war? Heutzutage kommt die Wohltätigkeit auf die Opfer nur organisiert zu, als ein Gemeinschaftswerk, sozusagen.
Das blinde Kind Keine Wohltätigkeit, kein Licht, ich habe meine Prinzipien.
Charly Und wir sind nun mal keine Organisation mehr. Jetzt wäre jede Wohltat sozusagen ein Verlustakt, wo sie sich wieder in der Privatsphäre des einzelnen abspielt.
Das blinde Kind Eine Wohltat für mich ist nie ein Verlustakt für mich, das ist die eiserne Regel der Wohltätigkeit, wie ich sie sehe.
Charly Sie sind Ja blind.
Das blinde Kind Eben.
Charly Ja aber was wollen Sie denn? Ein Mord ist kein Schönheitsfehler, den man wieder korrigieren kann. Es gibt keinen Club privé mehr.
Das blinde Kind Professor Sonnenschein wird mir neue Wohltäter suchen, und dann brauche ich das himmlische Licht wieder, damit es ihnen in die Zukunft leuchtet.
Charly Und was wird dann mir leuchten?
Das blinde Kind Sie haben ja keine Zukunft.
Charly Ich versichere Ihnen, dass wir spätestens in zwei Tagen die Nummer achtundvierzig identifiziert haben. Herr Huback spürt jeden auf. Und dann sind wir wieder wohltätig.
Das blinde Kind Das ist dann aber keine Wohltätigkeit mehr, wenn sie nicht aus gutem Herzen kommt.
Charly Ich dachte, ein Herz wird für Sie automatisch gut, nachdem es wohltätig war.
Das blinde Kind Aber das Herz muss es auch wollen. Dann freut sich nämlich die Wohltätigkeit nicht, wenn sie nicht freiwillig geschieht. Das ist ja gerade das Schöne dran, an der freiwilligen Wohltätigkeit, dass ich mir dann die Nächstenliebe nachzählen kann. Jeder Franken ist ein Stückchen Nächstenliebe mehr. Mich streichelt nämlich das Geld zurück, wenn ich es berühre, weil in jedem Geldstück auch ein Stück Herz drin ist. Aber das ist nur bei freiwilligen Spenden so, ansonsten erfahre ich nur Hass aus dem Geld.
Charly Also dann haben Sie Ihr Leben auf einem krassen Widerspruch aufgebaut, wenn Sie im Geld die Nächstenliebe sehen.
Das blinde Kind Jetzt werden Sie gemein.
Charly Weil ich keine Illusionen habe.
Das blinde Kind Das himmlische Licht haben Sie nicht, das macht Sie so bös.
Charly Sie mit Ihrem himmlischen Licht!

Charly schlägt das himmlische Licht in Scherben und geht zurück ins Büffet. Das blinde Kind tastet hilflos blind nach den Scherben und weint.

Das blinde Kind Au! Au!

Charly macht im Büffet das Licht aus. Die Bühne wird dunkel.

Das blinde Kind Au!

Die Bühne ist dunkel. Orgelmusik. Der Rolladen vor dem Polizeiposten wird hochgezogen. Die Orgelmusik ist aus. Die Bühne wird hell. Ueber der Buffettür hängt eine neue Schrift WEGEN BETRIEBSUNFALL HEUTE DEN GANZEN TAG GESCHLOSSEN. Vera, in ihrem schwarzen Kleid und mit dem Schleier vorm Gesicht, versucht die Blumen, die überall verstreut liegen, in einen Müllsack zu stopfen, was ihr aber angesichts der. grossen Blumenmenge nicht gelingen kann. Huback, ebenfalls in Schwarz, kommt aus dem dunklen Inneren des Polizeipostens mit einer weissen Lilie in der Hand. Er reicht die Blume Vera.

Huback Wenn Sie gestatten.
Vera Ich bin Ja nicht gestorben.
Huback Trotzdem. Nur schon weil Sie eine Frau sind.
Vera Lachen Sie mich ruhig aus.
Huback Das meine ich todernst.

Vera nimmt die Lilie von Huback.

Vera Das heisst nur zusätzliche Arbeit.
Huback Wenn man eine Frau ist?
Vera Wenn Jemand stirbt. Blumen aus aller Welt, mein Gott! Aus Amerika sind Jetzt die fleischfressenden gekommen, wo wir das himmlische Licht für die Fliegen nicht mehr haben.
Huback Kriegen Sie es denn nicht extra bezahlt?
Vera Keine Extras.

Vera stopft die Lilie in den vollen Müllsack.

Vera Kein Geld im Haus.

[...]

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