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Schaffhauser Nachrichten
117. Jahrgang, Nr. 205
Dienstag, 5. September 1978

Zu den Ausstellungen «Surrealismus» und «Max Ernst» im Kunsthaus Zürich

Das Allgemeine und das Spezielle: Das Kunsthaus Zürich zeigt gegenwärtig zwei Ausstellungen zum Thema Surrealismus. Das Allgemeine: die surrealistische Werkgruppe aus der Sammlung des Museums of Modern Art; das Spezielle: die Werke auf Papier von Max Ernst.

Die Schwierigkeiten, in welche der Museumsbesucher beim Betrachten einer so heterogenen Ausstellung wie jener des Museums of Modern Art notgedrungen geraten müsste, werden durch die Verbindung mit den Werken von Max Ernst aufgehoben oder zumindest stark reduziert. Max Ernsts Arbeiten setzen deutliche Akzente für die 62 Objekte unifassende amerikanische Sammlung aus der Blütezeit des Surrealismus in den dreissiger Jahren. Dem Betrachter wird dadurch die Orientierung wesentlich erleichtert und der Zugang zu einer nicht unbedingt leicht verständlichen Epoche freigegeben.

So erkennt man aber eigentlich rasch, worum es den Surrealisten ging: Der geistige Prozess steht im Vordergrund, das Denken und seine Visualisierung durch Bilder und Skulpturen machen das Wesen des Surrealismus aus. Der schöpferische Akt ist nicht mehr das Malen selbst oder das Bildhauern, sondern das, was zu den jeweiligen Ausdrucksformen geführt hat und aus ihnen folgt. Das Kunstwerk an sich beansprucht bei den Surrealisten wenig Raum und ist, überspitzt gesagt, im Grunde nur als Mittel für eine weitreichende Botschaft nötig. Dies gilt vor allem für die Gruppe der Objektkünstler wie Duchamp, Cornell, Giacometti u. a., die auf dem kleinsten Raum und mit dem bescheidensten technischen Aufwand die kompliziertesten Gedankengänge sichtbar machten, behält aber seine Richtigkeit auch für jene Künstler, die wie Dali, de Chirico, Margritte oder Miro dem Kunstwerk, dem Resultat der schöpferischen Arbeit, eine vom Entstehungsprozess uneingeschränkte Autonomie zugestehen.

Die geistige Auseinandersetzung, die Inspiration im umfassendsten Sinn — das machte für mich die Begegnung mit den Klassikern des Surrealismus im Kunsthaus Zürich auch wirklich lohnend. Die anerkannten Meisterwerke, die Bilder von Dali beispielsweise, die in unzähligen Katalogen reproduzierten, interpretierten, in den ungeschriebenen Bestand der Dauerbrenner aufgenommenen Arbeiten lassen mich diesmal, trotz meinem Erwarten, eher kalt. Als würde der ästhetische Genuss, zu welchem diese Werke zweifellos verführen, die Hirntätigkeit lähmen: Ich fühlte mich wieder einmal in die restlos passive Konsumentenhaltung eines Kunstliebhabers zurückversetzt. Um so mehr lernte ich deshalb, und das spricht für die Ausstellung, die so anders geartete, auf jede formale Konvention verzichtende, herausfordernde, geistig immer noch sehr lebendige Welt eines Breton, eines Duchamp oder eines Cornell schätzen. Hier wird es für den Betrachter unmöglich, an den Werken mit einem bloss anerkennenden Kopfnicken vorbeizugehen, die Kunst bloss zu konsumieren. Er wird aufgehalten und in das Werk geistig hineinbezogen. Er wird gezwungen, den Gedankengang, dessen Ziel er vom Künstler in der Materie festgehalten vor sich sieht, für sich selber nachzuvollziehen, um das Resultat überhaupt zu begreifen. So steht er zum Beispiel dem «Juwelenkästchen der Taglioni» von Joseph Cornell aus dem Jahr 1940 ziemlich ratlos gegenüber: Die mit braunem Samt bezogene Holzschachtel mit gläsernen Eiswürfeln und Schmuck stellt für ihn ein Rätsel dar. Erst die Anmerkung Cornells auf der Innenseite des Deckels lässt den Betrachter das Kästchen als Veranschaulichung einer Idee, einer Legende erkennen: «In einer Mondnacht des Winters 1935 wurde der Wagen der Marie Taglioni von einem russischen Strassenräuber angehalten, welcher diesem bezaubernden Wesen befahl, für ihn — als ein Ein-Mann-Publikum — auf einem Pantherfell zu tanzen, das er im Sternenlicht über den Schnee gebreitet hatte. Aus dieser wahren Begebenheit entstand die Legende, die Taglioni habe, um dieses einzigartige Erlebnis nie zu vergessen, stets ein Stück Kunsteis in ihre Juwelenschatuelle oder auf ihren Schminktisch gelegt, wo es inmitten der Juwelen schmolz und so gewissermassen die Atmosphäre jenes Sternenhimmels über der eisbedeckten Landschaft hervorzauberte.» Die Holzschachtel mit gläsernen Eiswürfeln ist eben keine Holzschachtel mit gläsernen Eiswürfeln. Sie ist ein dargestellter Mythos.

Vom Intellekt, von der Idee her sind auch die ausgestellten Arbeiten von Max Ernst zu betrachten. Nur selten bleibt Ernst bei den eigentlichen malerischen Ausdrucksmitteln wie Farbe oder Bildkomposition als Endziel stehen. Er schiesst immer über das rein gestalterische Ziel hinaus ins Ideelle, der Bildinhalt ist immer wichtiger als die Bildausführung. Am besten wird dies vielleicht an den Collagen deutlich, die für mich den eindrücklichsten Teil der Ausstellung darstellen. Ernst verwendete oft die Xylographien zu Romanen des 19. Jahrhunderts, schnitt einzelne Teile heraus und setzte sie entweder mit anderen, nicht dazugehörenden Teilen aus anderen Bildern zusammen, oder er übermalte sie, wodurch die seltsamsten, irritierendsten Verbindungen entstanden. Er selber äusserte sich zu diesem Verfahren folgendermassen: «Collage-Technik ist die systematische Ausleuchtung des zufällig oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene — und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.» Die Collagen brauchte Ernst mit Vorliebe als Druckvorlage. Erst durch die Reproduktion, durch das Anonymwerden des Originals verschwinden die Nahtstellen zwischen den einander fremden Teilen, die einzigen Spuren von Ernsts bildnerischer Arbeit im herkömmlichen Sinn. Es ist empfehlenswert, sich für die Collagen von Max Ernst, besonders aber für seine Collagen-Romane «La femme 1000 têtes», «La petite fille qui voulut entrer au Carmel» und «Une Semaine de Bonté» genügend Zeit zu reservieren. Stundenlang kann man sich an den skurrilsten, komischsten und zugleich ungeheuerlichsten Einfällen des überaus gescheiten und phantasievollen Künstlers ergötzen. Frauen mit Vogel-und Männer mit Löwenköpfen, Salonkonversation mit schuppigen Ungeheuern — das Irrationale, das Verrückte, Unheimliche und Bedrohliche wird vollkommen ernst genommen und als ein selbstverständlicher Teil des «normalen» bürgerlichen Lebens dargestellt.

Die Collage ist dabei nur eine von den vielen von Ernst verwendeten Techniken. Im Kunsthaus Zürich bekommt der Besucher die Gelegenheit, die verschiedenen halbautomatischen Verfahren kennenzulernen, die auf Ernst gerade wegen ihrer Möglichkeit, das Werk in beliebiger Fortsetzung zu reproduzieren, eine grosse Faszination ausübten. Und obwohl Ernst manche Techniken als einziger beherrschte und sie keine weitere Verbreitung mehr fanden, so lohnt es sich doch, sie zur Kenntnis zu nehmen; nicht zuletzt deshalb, weil sie die Einmaligkeit der schöpferischen Handschaft relativieren, das «Original» als eigenen Wert in Frage stellen und den Gedanken zum der Malerei übergeordneten Prinzip erheben.

(«Surrealismus» bis 8. Oktober, «Max Ernst» bis 29. Oktober im Kunsthaus Zürich.)

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