Zwischen dem Kuss und Wiedersehen
Theaterstück (Einakter)
Theaterstücke
Frühe Stücke:
Der Blumengarten (vor 1971)
Wer hat den Längsten?
(1974/75)
Das Glockenspiel im schwarzen Palast (1974)
Die Einweihung des öffentlichen Waisenhauses (1976)
Eine Blutwurst für King Kong (1978)
Schlag mich, peitsch mich, süsser Löwe (1978)
Stück ohne Titel (1979)
Liebe Spielen (1979/80)
Die letzte Hoffnung (Libretto, 1976)
Späte Stücke:
Sterns Stunden (1981)
Aus böhmischen Dörfern
Die Reise zum Mond
Kambek
Zwischen dem Kuss und Wiesersehen
Traiskirchen (1988)
Ein Neger mit Gazelle
Drei Sterne über dem Baldachin
Die Engel von Hollywood (Dramatisierung 1989/90)
Im Schatten der Büsche (1991/92) - Manuskript-Fragment
 

 

Jahr 1987/88
Copyright Daniel Corti
Personen 2D / 0H
Ort der Handlung  
Zeit der Handlung  

für Muni und Nathalie

Personen:

Lucy
Marie

 

Über das Stück

Ein magisches Traumspiel um die Vorstellungskraft der Liebe. Als Mädchen hat sich Lucy so sehr in den jüdischen Fabrikantensohn verliebt, dass sie zum Schein schwanger wird. Arthur, der für die angebliche Verführung hingerichtet worden ist, lebt in Lucys Erinnerung weiter. Vehement ersehnt sie sich die nie stattgefundene Liebesnacht, wozu ihr die Klosternovizin Marie schliesslich verhilft: Lucy schenkt Marie ihr ungelebtes Leben. (FBE-Zeitung)

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Zwischen dem Kuss und Wiedersehen

Lucy bügelt ein altes Sommerkleid, dazu singt sie.

Lucy ... de ce bec amoureux qui d'une oreille à l'autre va, tra la la la la....

Sie hängt das Kleid in einen großen Schrank. Beim Schließen des Schranks wirft sie einen Blick in den Schrankspiegel, erschrickt und dreht sich um.

Lucy Wo bist du?

Sie öffnet den Schrank wieder und erforscht mit dem Blick im Spiegel das Zimmer.

Lucy (sehr leise) Oh Seele, wann vergisst du, dass du noch nie gesehen wurdest? Und wann erinnerst du dich?

Marie tritt auf im Kleid einer Novizin.

Marie Schwester Therèse bat mich, dem heiligen Sebastian einen Blumenstrauß zu binden, das hat mich aufgehalten. - Habe nur rote Gladiolen genommen, die sehen aus wie Pfeile voll Blut.
Lucy Wer bist du, kleines Mädchen? Gibt es dich wirklich, oder träume ich dich nur?
Marie Wenn Sie mich doch nur träumen würden! Im Traum könnten Sie mich nach Belieben formen; so wie es Ihnen passt.
Lucy Und das willst du?
Marie Ja. Ein Teil von Ihnen sein. Als Geträumte wäre ich mehr Sie als ich. Ein Kind Ihrer Phantasie.
Lucy Magst du dich nicht?
Marie Ich steh mir im Weg. Solang in mir noch ein Rest von mir zurückbleibt... Schwester Therèse erzieht uns zur Selbstaufgabe, und sie hat recht damit. Ich bin zu ehrgeizig. Ich möchte die beste Nonne werden, die selbstloseste, aber gerade der Wunsch, das zu sein, hindert mich daran. Ich bete manchmal stundenlang, um mich im Gebet zu vergessen und nur für Gott da zu sein, aber dann zeigt mir Schwester Therèse die Blumen im Garten und fragt: "Strengen die sich vielleicht an?" Ich verstehe den Wink, aber statt mich dafür zu bedanken, fange ich zu weinen an. Sie sieht das und sagt: "Die Tränen kommen aus verletzter Eigenliebe" und weint selber, so traurig macht sie meine Eigensucht. Eine Blume sein, ja, das wäre schön! Eine Kornblume oder eine Margarethe... oder einfach nur ein Stein, ohne Bewusstsein von sich, Gott ergeben... halten Sie mich doch für Ihren Traum, das wird mir das Sein leichter machen.
Lucy Aber du weißt: von Nonnen träumen bedeutet Unglück.
Marie Das ist es ja gerade: ich bin noch keine Nonne. Jesus will mich ganz oder gar nicht. Ich bin noch zu sehr ich selber. Keine Blume... Deshalb hat mich Schwester Therèse zu Ihnen geschickt.
Lucy Damit du Blume wirst? Soll ich dich vielleicht in eine Vase stecken?
Marie Lachen Sie nicht. Schwester Therèse will mich prüfen.
Lucy Und worin besteht die Prüfung?
Marie Pst! Das darf ich nicht wissen. Aber wenn ich sie bestehe, werde ich in den Orden aufgenommen werden. Hat Schwester Therèse Ihnen nichts gesagt?
Lucy Ich kenne deine Schwester Therèse nicht.
Marie Was?... Ich habe mich vielleicht in der Tür geirrt, ich war mir aber sicher...Schwester Therèse hat Sie mir genauso beschrieben. Sie heißen doch Lucy?
Lucy Ja... so habe ich geheißen... damals...
Marie Was für ein Glück, mit Schwester Therèse aufzuwachsen!
Lucy Die kleine Therèse... Sie hatte einen Silberring am Finger, mit einem kleinen Vergissmeinnicht, war nur aus Glas, aber wie ich sie darum beneidet hab! Und dann kam sie in unser Dorf zurück und hatte so ein Kleid an, wie du jetzt eins anhast, aber den Ring mit dem Vergissmeinnicht, den hatte sie nicht mehr. Ich war damals so alt wie du und hatte keinen Schmuck zum Ausgehen. Nur rote Hände von der Arbeit in der Fabrik.

Marie schaut auf Lucys Hände und sieht, dass die Finger starrkrampfartig verkrümmt sind.

Marie Oh... (streichelt Lucys Finger) Sie haben in einer Fabrik gearbeitet?
Lucy In einer Fabrik für Kinderwagen. Damals konnte ich die Finger noch gut bewegen, sehr flink sogar. Einmal habe ich die Prämie gewonnen: einen Kinderwagen. Aber Kinder hatte ich keine. Das war ein schöner Kinderwagen, groß, mit weicher Federung. Ich habe ihn behalten.

Lucy holt aus einem Nebenraum einen neuen altmodischen Kinderwagen.

Lucy Die Nähte innen, auf dem Polster, habe ich gemacht. Ich kann ihn nicht mal halten.

Marie hilft ihr mit dem Kinderwagen.

Lucy Liegt schön in der Hand, nicht? Oft habe ich ihn so gehalten und hab mir Dinge vorgestellt. Wie ich und Arthur am Quai spazieren gehen, in einem Seebad, und unser Mädchen schaut uns beide mit großen Augen an - wir hätten doch ein Mädchen gehabt, nicht?
Marie Ich weiß nicht...
Lucy Das kannst du auch nicht wissen. Nicht einmal ich weiß es. Aber als man mich fragte, welche Farbe, sagte ich rosa. Ein Mädchen wollte ich. (sie drückt Maries Arm hinunter) So schaukelte ich unser Mädchen in den Schlaf, aber ich war es, die träumte, und die Welt um mich änderte sich nach meinem Traum und begann sich auf ihn zu beziehen, überall sah ich Zeichen der Bestätigung und Brüste bekam ich von dem Träumen wie zwei Salatköpfe. Ja, weil ich den Kinderwagen gewonnen hab. Aber das war es nicht allein, das hätte zum Träumen nicht ausgereicht. Bei der feierlichen Übergabe des Kinderwagens küsste Arthur meine Hand, nicht richtig, versteht sich, seine Lippen machten Halt über meiner geröteten Hand, aber ich konnte deutlich den warmen Hauch seines Atems spüren, und dieser zarte Atemhauch war ein Sturmwind für mein Herz. Ein Sturmwind, den ich selber gegen mich losgeschickt hab.
Die Wahrheit ist, dass ich die Prämie unbedingt gewinnen wollte. Nicht wegen des Kinderwagens - obwohl er mir später sehr geholfen hat, in die Welt meiner Träume zu versinken - wegen des Handkusses von Herrn Arthur wollte ich die Prämie gewinnen. Ich hätte mir denken können, ein Fabrikantensohn und ich, das geht nicht zusammen, zumal ich nicht schön war, aber deshalb sehnte ich mich nach umso mehr Schönheit. Ein gewöhnlich schöner Mensch, der hätte mir nicht genügt. Herr Arthur, musst du wissen, war ganz ausnehmend schön. Bis zu dem Zeitpunkt habe ich nur einen schönen Mann gesehen, das war unser Herr Jesus Christus auf dem Altarbild bei uns in der Kirche, aber Herr Arthur war schöner. Wir Mädchen in der Fabrik hätten umsonst gearbeitet, nur für sein Lächeln, wenn er es gewollt hätte. Aber er hat es nicht gewollt. Immer ganz ernst schritt er an uns vorbei und keiner von uns schaute er je ins Gesicht. Er schaute immer nur auf unsere Finger, wie schnell sie arbeiteten, und ob sie nicht unnötige Griffe ausführten. Unsere Hände, das waren keine Frauenhände, die er zu küssen pflegte in der feinen Gesellschaft, das waren Werkzeuge für ihn. Vielleicht wollte ich deshalb von ihm den Handkuss, damit ich die Hände für mich zurückgewinne. In den Händen saß mein Begehren. Ich habe sie mir vorher ordentlich gewaschen, mit der Bürste hab ich sie abgerieben, damit Herr Arthur sich nicht ekelt, wenn er sie küsst. Aber dadurch sind sie nur noch röter geworden, und ein Paar Handschuhe hatte ich nicht. Aber die hätte ich auch nicht angezogen zu dem Anlass. Dann musste ich hervortreten. Herr Generaldirektor hat mir die Hand geschüttelt und dazu etwas gesprochen, Worte des Danks, aber ich habe nicht zugehört, ich musste daran denken, dass meine Hände feucht geworden sind, vor Aufregung, und welche Zumutung das für Herrn Arthur ist, sich über sie zum Küssen zu beugen. Am liebsten wäre ich nach Hause gelaufen und hätte mich im Bett verkrochen, so ist das Gefühl, wenn man sich zu sehr auf etwas freut, dass man sich dann überhaupt nicht mehr freut, wenn's eintritt, aber da trat schon Herr Arthur an mich heran, mein Arthur, frisch rasiert und sehr gut duftend - ich habe das Rasierwasser dann überall gesucht, auch, in den feinsten Läden, aber nicht gefunden - es war vielleicht der Duft des Augenblicks, einmalig, unwiederholbar - und da schaute er mir zum ersten Mal in die Augen, er sah mich zum ersten Mal, ich war auf einmal jemand, eine Person, die Angst fiel von mir ab wie eine alte Haut, und indem ich jemand wurde, wurde ich zugleich auch jemand anders, nicht mehr ich selber, sondern eine junge Dame, und mit einem Mal erfasste ich alles, hatte über alles eine Übersicht, nahm alles gleichzeitig sehr deutlich wahr, sehr scharf, nicht so wie auf einem Photo, wo nur etwas scharf ist und alles andere verschwimmt, ich sah die Bartstoppeln auf dem Gesicht des Auslieferungschefs, und der stand erst in der dritten Reihe hinter den Damen aus dem Kassenbüro, und ich sah den Nagellack auf Simons kleinem Finger abblättern, und auf dem Tisch stand eine Vase mit Rosen, und ich wusste, ohne sie zu zählen, dass es genau dreiundzwanzig Rosen waren, und alle die Damen und Herren klatschten und beneideten mich und Arthur nahm meine Hand, und ich sah, wie fehlerlos er war von Kopf bis Fuß. Der Anzug, die schmale Taille und die breiten Schultern, das scharf geschnittene, magere, sonnengebräunte Gesicht, die Körperhaltung - das alles war so tadellos, dass ihn vor Banalität nur die beweglichen schwarzen Augen schützten, die mich anschauten mit einer Durchdringlichkeit, wie man sie hierzulande selten antrifft. Außerdem sah er so gar nicht aus nach einem Fabrikantensohn, und der Umstand war nicht weniger interessant. Du denkst vielleicht, dass ich in der Erinnerung meine Beobachtungen übertreibe, um sie lebendig zu erhalten, aber glaube mir, dass gerade die verstecktesten, zartesten Schattierungen der Menschen, Beziehungen und Ereignisse für unser Gedächtnis entscheidend sind und außer ihnen schon fast gar nichts mehr. Und du darfst nicht vergessen, dass dieser Augenblick meinem bisherigen Leben ein Ende machte. Ich habe meine Hände zurückgewonnen, geheiligt durch Arthurs Kuss , aber mein Herz habe ich verloren. Nach Hause ging ich wie im Traum. Den leeren Kinderwagen schob ich vor mir her durch die leeren Strassen der Stadt, und es erbarmten sich meiner auf den Gassen die Hunde und die herumstreuenden Katzen, und ihr Geheul endete in Liebesklängen.
(schaut in den Kinderwagen) Sie schläft! (küsst Marie die Hände) Hattest du jüngere Geschwister?
Marie Schwester Therèse bat mich, Ihnen meine Hände zu leihen.
Lucy Mir deine Hände zu leihen? (lacht und prüft Maries Hände) Ja. Das sind meine Hände. Meine Hände von damals. Aber sie wissen nichts.
Marie Und doch war mir, dass in dem Kinderwagen ein kleines Mädchen schläft. Mein Mädchen. Ist das nicht seltsam? Das Gefühl kam durch die Hände, wie ich den Kinderwagen hielt.

[...]

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Hörspielfassung

Regie: Katja Früh
Mit Anne Marks-Rocke (Lucy) und Andrea Fabian (Maria) (Dauer 39 min . )
Dauer: 39 Minuten
Erstausstrahlung: 13./17. September 1988 Radio DRS2

  • Hörprobe (Download mp3, 584 kB)
  • Vorrede durch Michael Zochow (Download mp3, 210 kB)
 
 
 
 
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